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Interview CLASS Nr.3-2014

Edition VIOLIN SOLO von Renate Eggebrecht auf TROUBADISC

»HEILIGER SEBASTIAN HILF!« (Max Reger)

Die Geigerin Renate Eggebrecht hat nach 15 Jahren Entstehungszeit ihre insgesamt 14 CDs umfassende Edition VIOLIN SOLO abgeschlossen, die unter anderem auf 5 CDs eine Gesamt-Einspielung des Werks für Violine allein von Max Reger enthält. Aus diesem Anlass sprach der Musikforscher und Dirigent Dr. Benjamin-Gunnar Cohrs (BGC) mit der Künstlerin (RE).

BGC: Einen besonderen Schwerpunkt ihrer Anthologie bildet das Violin-Gesamtwerk von Reger. Wie kam es dazu?

RE: »Nach der Einspielung seiner grandiosen Klavier-Kammermusik wollte ich die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Max Reger noch nicht beenden. Bei ihm kommt man nicht darum herum, sich mit seiner Harmonik auseinanderzusetzen. Im akkordischen Spiel ist leuchtender Klangreichtum und Farbigkeit nur über die Reinheit der Tonbeziehungen zu erreichen. Aufgrund meiner Erfahrungen denke ich, dass nicht die ›temperierte Stimmung‹ mit zwölf fiktiven Einheitstönen, sondern vielmehr die ›harmonische Quint-Terz-Stimmung‹ für die Musik der klassischen Moderne am besten geeignet ist, Ausdrucksvielfalt und Lebendigkeit dieser Musik zu erfassen. Wir haben auf der Geige den Vorteil, die kleinsten Differenzierungen in den Intervallbildungen greifen zu können. Nur dann können wir Regers Ausspruch verstehen: ›O, es gibt noch viele, viele Nord- und Südpole in der Harmonik.‹ Dass ich allerdings einmal eine Gesamteinspielung aller Werke für Violine solo von Reger vorlegen würde, konnte ich mir anfangs gar nicht vorstellen, zu herausfordernd und imposant ist sein Anspruch an die Violine.«

BGC: Wie kam es zur Idee einer Serie mit Solowerken der klassischen Moderne?

RE: »1999 konnte ich die Einspielung von Max Regers Sieben Sonaten op. 91 (1906) veröffentlichen. Ein Jahr später folgten seine frühen Vier Sonaten op. 42 (1899), dann waren meine Regerfinger erschöpft. Aber ich hatte Blut geleckt, meine Spieltechnik hochgeschraubt, warum sollte ich nicht mit einem neuen Programm weitermachen? So entstand die Idee der Serie VIOLIN SOLO. Vol. 1 hat den Titel Solo Sonatas for Violin in the Spirit of J. S. Bach. Das Ende der Bachschen Chaconne weht leise aus der Vergangenheit herüber in das 20. Jahrhundert, das nun mit Regers Chaconne op. 117/4. repräsentiert wird. Es folgte die Sonate von Regers Schülerin Johanna Senfter als Ersteinspielung und die Sonate des Schönberg-Schülers Nikos Skalkottas, beide Werke sind wirklich Entdeckungen! Auch die Sonate von Arthur Honegger wird leider wenig beachtet. Sie ist eine Hommage an Bach und Reger – eine enorme Herausforderung für Geiger! 2002 spielte ich dann Regers Sieben Präludien und Fugen und Chaconne op. 117 ein. Reger war der erste, der konzessionslos an Bachs Geist und Vorbild anknüpfte; die Chaconne ist eines seiner beeindruckendsten Violinwerke überhaupt! Ein Jahr später folgte der „Rest“ – Sechs Präludien und Fugen op. 131a, Präludium mit Fuge a-Moll, Präludium e-Moll und die drei Chaconnes aus opp. 42, 91 und 117.«

BGC: Damit hatten Sie 2003 Ihre Reger-Gesamtaufnahme abgeschlossen.

RE: »Nach diesem Mammutprojekt brauchte ich ein wenig Abstand. Bald machte ich mich aber doch an die Entwicklung eines Programms für VIOLIN SOLO Vol. 2. Ich wählte die Sonate von Erwin Schulhoff, einem Schüler Regers am Leipziger Konservatorium: hohe Expressivität, Anklänge an die böhmische Volksmusik, energiegeladene Musik! Béla Bartóks Sonate, von Yehudi Menuhin in Auftrag gegeben und ihm gewidmet, gehört zu den Highlights der Werke für Violine solo. Ich spiele hier übrigens die Viertelton-Ketten im Finale, die Menuhin leider nicht veröffentlicht hatte; sie finden sich aber im Band 22 der Musik Konzepte. Die Sonatine Pastorale von Darius Milhaud ist ein spieltechnisch sehr anspruchsvolles Kuriosum: südfranzösische Volksliedthematik, herbe Kantabilität, ein aufgelockertes Tanzstück als Referenz an den barocken Bach auf gerade mal drei Druckseiten! Die an den Schluss gesetzte Sonate in Greek mood von Dimitri Nicolau hat mir der Komponist gewidmet, als Dank für die CD-Einspielung seines Duos für Violine und Cello. Ich habe einiges an griechischen Tanzrhythmen und wechselnden Spielarten lernen müssen: eine vor leidenschaftlichem Temperament strotzende Musik.«

BGC: Es war Ihnen offenbar wichtig, den Einfluss Regers auf die nächste Komponisten-Generation hörbar zu machen?

RE: »Ganz genau. Deshalb beschäftigte ich mich dann für Vol. 3 intensiv mit Paul Hindemiths Kompositionen für Violine allein, war er doch ein großer Bewunderer der Solowerke von Bach und Reger. So entstand meine Gesamtaufnahme der Werke für Violine solo von Paul Hindemith mit einigen Ersteinspielungen. Was mich wirklich zu neuen Ufern führte, war die Partita für Violine solo (1976) von Vladimir Martynov, eine russische Minimal Music mit arte-povera-Appeal, sowie das zauberhafte, hochvirtuose Capriccio (1997) von Anatol Vieru. Regers Anrufung ›Heiliger Sebastian hilf!‹ hat ja vielen Komponisten geholfen, nur ist Geschichte nie etwas Absolutes, sie entsteht immer nur in unserer Erinnerung. Das gilt auch für die Geschichte der Musik, wie Thomas Beimel im CD-Booklet zu Martynovs und Vierus Musik schreibt.«

BGC: Ein weiterer Schwerpunkt Ihrer Violin-Anthologie ist die Musik von Gra?yna Bacewicz.

RE: »Ihre Sonate 2 (auf Vol. 2) ist für Geiger ein einziges Vergnügen. Genauso an die Bach-Tradition anknüpfend wie Schulhoff und Bartók, sprüht ihre Musik nur so von bravouröser Virtuosität! Die Vier Capricen (Vol. 4) sind elegant und höchst geigerisch. Mit der Aufnahme der Polnischen Capricen Nr. 1 und 2 sowie der frühen Sonate von 1941 konnte ich auf Vol. 5 meine Gesamteinspielung der Solowerke für Violine der polnischen Komponistin abschließen. Vol. 4 enthält außerdem die beiden Suiten von Ernest Bloch, die Èlegie von Igor Strawinsky, die Sonata Monologue von Aram Chatschaturjan, und a paganini von Alfred Schnittke. Darin zwinkern Bach und Paganini durch die Musik, und der Teufel läutet seine tiefe Glocke. Sehr gefesselt hat mich auch der Komponist Eduard Tubin mit seiner Sonate von 1962 und der Suite über Estnische Tanzweisen. Auch diese Werke sind auf Vol. 5 zu hören, zusammen mit der Sonate von Sergej Prokofiev, der Sonata fantasia von Ljubica Mari? (eine Entdeckung!) sowie der Sonate von Edison Denissow als Ersteinspielung. Anfang und Ende ihres ersten Satzes bildet der gebrochene g-Moll Akkord, seit dem Beginn von Bachs g-Moll Sonate für die Hörer unmittelbar damit verknüpft.«

BGC: Ein besonderer Höhepunkt ist Vol. 6, die Sie dem bedeutenden Komponisten, Geiger und Dirigenten Eugène Ysaÿe gewidmet haben.

RE: Er vollendete seine Sechs Sonaten op. 27 in den Jahren 1923-24, noch tief beeindruckt von einem Konzert, in dem Joseph Szigeti Werke von J.S. Bach gespielt hatte. Ysaÿe hatte sich schon seit langem mit den Solowerken Bachs beschäftigt und spielte selbst häufig in Konzerten die Chaconne d-Moll. Seine sechs Sonaten verstehen sich als modernes Echo auf Bachs Musik, als Erneuerung der Botschaft, die sich darin findet, aber auch als ein Echo auf alles, was seitdem die musikalische und geigerische Sprache verändert hat. Ysaÿes bahnbrechende Entwicklung geigerischer Spieltechniken führte zu neuen Ufern: Bartók, Milhaud, Schönberg, Mari?, Denissow u.v.m. verarbeiteten diese Anregungen in ihren Violinkompositionen. Ich habe für diese Aufnahme die intensiv geänderte und korrigierte Fassung letzter Hand verwendet – das achte Hand-Exemplar, das die Druckpresse verließ, unterschrieben von Ysaÿe mit ›Mai 1926‹. Das Capriccio (1944) von Joaquín Rodrigo fügt sich nahtlos an Ysaÿes letzte spanische Sonate an: Ein Paradestück impressionistisch-neoklassizistischer Couleur und halsbrecherischer Virtuosität für die Geige. Dieses Stück hat mir großen Spaß gemacht!

BGC: Mit der letzten CD schlagen Sie nun den Bogen zurück zur ersten – mit Werken von Bach.

RE: »Auf Vol. 7 sollte Bach mit seinen Sei Solo klingende Wirklichkeit werden; ich hatte für ihn diese Zahl reserviert, ist sie doch nach dem Gematrie-Verfahren die Gnadenzahl, die auf das Neue Testament deutet. Durch die umfangreichen Erkenntnisse der Musikwissenschaftlerin Helga Thoene wissen wir, dass sich die drei Sonaten als Kirchensonaten auf die drei Hochfeste Weihnachten, Ostern und Pfingsten beziehen. Um diese innere Ordnung nicht auseinanderzubrechen, bekam in der Edition jede zusammengehörige Sonate und Partita eine eigene CD. Für diese Einspielung habe ich alles Erlernte, Gewohnte, aus vielen Gründen Geforderte (z.B. das gesamte Reglement der historischen Aufführungspraxis) in Frage gestellt. Ich habe jeden Akkord, jede Linie gehört, als wären sie ganz neu. Ich habe das harmonische Leben im notierten Satz ernst genommen und auf seine Wünsche gehorcht. Ich habe die Kräfte der Rhythmen gesucht, ihnen einen Charakter gegeben. Ich habe den Bau der großen Formen wachsen lassen, um ihnen einen Sinn zu geben und mich mit den kleinsten Verzierungen aufgehalten. Die Arbeit dauerte mehr als zwei Jahre, dann war ich an dem Punkt: Das ist mein Bach! Alle Werke der Serie VIOLIN SOLO haben eine unüberhörbare Beziehung zu Bach und so habe ich als Schluss und Abschied das Postludium II des tiefen Bach-Kenners Valentin Silvestrov gewählt. Hier befreit sich die Zeit von der Gängelung des Metrums, es entsteht eine innerlich wachsende Vorstellung einer neuen musikalischen Realität. Wenn man ein großes, aufwendiges Projekt abschließt, gibt es immer diese Verwunderung: Was hast Du da bloß gemacht…? Aber ich denke, ›dees basst scho‹, wie die Bayern sagen!

Dr. Benjamin-Gunnar Cohrs, 2014


Renate Eggebrecht, Solo-Einspielungen auf TROUBADISC

TRO-CD 01422: Reger, 4 Sonaten op.42
TRO-CD 01416 (2 CD-SET): Reger, 7 Sonaten op.91
TRO-CD 01425: Reger, 7 Präludien & Fugen u. Chaconne op.117
TRO-CD 01427: Reger, 6 Präludien & Fugen op.131a, Präludium & Fuge a-Moll,
Präludium e-Moll, 3 Chaconnes
TRO-CD 01424, VIOLIN SOLO Vol.1: Reger, Chaconne; Senfter, Skalkottas, Honegger: Sonaten
TRO-SACD 01429, VIOLIN SOLO Vol. 2: Schulhoff, Bartók, Bacewicz (Nr.2), Milhaud, Nicolau: Sonaten
TRO-SACD 01431, VIOLIN SOLO Vol. 3: Hindemith, Studien & Sonaten; Vieru, Capriccio; Martynov, Partita
TRO-SACD 01433, VIOLIN SOLO Vol. 4: Bloch, Suiten 1 & 2; Strawinsky, Élégie; Bacewicz, 4 Capricen;
Chatschaturjan, Sonate-Monolog; Schnittke, a paganini
TRO-SACD 01436, VIOLIN SOLO Vol. 5: Prokofjew, Mari?, Bacewicz (Nr.1), Tubin, Denissow: Sonaten;
Bacewicz, Polnische Capricen 1 & 2; Tubin, Suite über Estnische Volksweisen
TRO-CD 01443, VIOLIN SOLO Vol. 6: Ysaÿe, 6 Sonaten op.27; Rodrigo, Capriccio
TRO-CD 01444, VIOLIN SOLO Vol. 7 (3 CD-SET): J.S. Bach, Sonaten & Partiten, BWV 1001-1006;
Silvestrov, Postludium II




 
letzte Änderung
Friedemann Kupsa
(25.01.2019 - 11:16 Uhr)

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